Teil 2: Der Digitale Zwilling als Enabler einer nachhaltigen Wärmewende
Vor dem Hintergrund der Klima- und Energiewende spielen Fernwärmenetze eine entscheidende Rolle für eine zuverlässige und bezahlbare Wärmeversorgung. Dies gilt insbesondere in dicht bebauten städtischen Gebieten, in denen der Einsatz alternativer Technologien, wie z.B. Wärmepumpen, großflächig nur sehr schwer möglich ist. Gleichzeitig liegt der Anteil der Fernwärme in Deutschland derzeit gerade einmal bei 13,9 % der Haushalte.[1]
Dies erhöht den Druck auf Kommunen und Stadtwerke, Fernwärme dort flächendeckend anzubieten, wo es wirtschaftlich sinnvoll ist. So rechnet der Branchenverband AGFW in den kommenden Jahren mit einem Anstieg des Marktanteils auf 32 bis 40 Prozent.[2] Grund dafür sind auch politische Weichenstellungen: In Baden-Württemberg beispielsweise sind Kommunen mit mehr als 20.000 Einwohnern gesetzlich verpflichtet, bis 2023 einen kommunalen Wärmeplan vorzulegen, der unter anderem die Ausweisung von Eignungsgebieten für Wärmenetze vorsieht.[3] Der Netzaus- bzw. Neubau ist sehr infrastrukturintensiv und daher mit massiven Investitionen verbunden. Um die daraus resultierenden finanziellen Risiken zu hebeln, stellt der Digitale Zwilling ein geeignetes Vehikel dar.
Optimierung bestehender und Ausbau neuer Netzinfrastrukturen
Zum einen schafft der Einsatz eines Digitalen Zwillings eine höhere Transparenz innerhalb bestehender Fernwärmenetze und ermöglicht dadurch eine deutliche Effizienzsteigerung der bestehenden Infrastruktur, indem Anomalien und Störungen im Netz und/oder an einzelnen Verbrauchsstellen frühzeitig erkannt und automatisiert gemeldet werden und verbesserte Kapazitätsprognosen eine Optimierung des Leistungsinputs zulassen. Zum anderen helfen digitale Abbilder der zu erschließenden Gebiete und ihrer Objekte, bessere Prognosen über den zu erwartenden Energiebedarf und die Potenziale für die Fernwärmeversorgung zu erhalten und damit eine effizientere Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen auch in der Ausbauphase zu gewährleisten.
Effizienzpotenziale in bestehenden Fernwärmenetzen heben
Da in Fernwärmenetzen heute überwiegend analoge Zähler eingesetzt werden, haben in der Regel weder Verbraucher noch Netzbetreiber Zugang zu tagesaktuellen Verbrauchsdaten einzelner Messstellen. Doch das ändert sich. Denn im Zuge der EU-Energieeffizienzrichtlinie dürfen nur noch Heizkostenverteiler, Wärme-, Kälte- und Warmwasserzähler eingebaut werden, die fernauslesbar sind. Bis 2027 müssen alle Heizkostenverteiler und Zähler umgerüstet sein. Betroffen sind alle Liegenschaften, die über eine zentrale Wärmeversorgung oder einen Fernwärmeanschluss verfügen.
Für die Erzeuger- bzw. Betreiberseite bedeutet die Um- bzw. Aufrüstung zunächst einen zusätzlichen Aufwand, bietet aber auch Chancen, indem sie – je nach eingesetzter Lösung – kontinuierlich aktuelle Daten z.B. zu Vor- und Rücklauftemperaturen und Durchflussmengen pro Zähler/Anschlusspunkt erhalten. Diese Informationen können in einem Digitalen Zwilling abgebildet und mit weiteren Daten wie Außentemperatur, Wetterprognosen oder Wochen- und Feiertagen angereichert werden. Auf diese Weise lassen sich individuelle Wärme- bzw. Verbrauchsprofile ableiten, die eine Prognose der aggregierten Leistungskurve auf Tagesbasis ermöglichen.
Damit kann der Energiebedarf wesentlich präziser gesteuert werden als heute im überwiegend analog gesteuerten Netz. Durch die verbesserte Prognosefähigkeit können so die bisher notwendigen „Puffer“ in der Kapazitätsplanung der Erzeuger um bis zu 15% reduziert werden. Dies spart überschüssige Energie und Kosten, die wiederum für die Erschließung zusätzlicher Liegenschaften genutzt werden können.
Verbesserte Prognosefähigkeit beim Netzausbau
Nicht nur der Wärmeleistungsbedarf in bestehenden Fernwärmenetzen kann durch den Einsatz des Digitalen Zwillings besser prognostiziert und damit die Leistungseinspeisung präziser gesteuert werden. Auch die Neuplanung bzw. Dimensionierung zukünftiger Netzinfrastrukturen kann mit Hilfe der digitalen Zwilling-Technologie effektiv unterstützt werden. Anstelle der kontinuierlichen Bereitstellung von Verbrauchsdaten durch intelligente Hausanschlusspunkte setzt der Digitale Zwilling in diesem Szenario auf der Ebene der Gebäudeinfrastruktur an. Ziel ist es, ein möglichst genaues digitales Abbild der im Stadtgebiet vorhandenen Objekte bzw. Liegenschaften und der damit verbundenen Energiebedarfe zu erzeugen.
Hierfür werden zum einen kommunale Daten zur Anzahl und Nutzungsart der Immobilien verwendet. Zum anderen können diese Informationen mit demographischen Daten wie Altersstruktur oder Bevölkerungswachstum in bestimmten Quartieren angereichert werden. Auf diese Weise entsteht eine digitale Karte des potenziellen Erschließungsgebietes, aus der sich nicht nur der aktuelle, sondern auch der zukünftig zu erwartende Wärmebedarf ableiten lässt. So müssen beispielsweise in strukturschwachen Regionen mit hohem Altersdurchschnitt und geringem Zuzug langfristig geringere Erzeugungskapazitäten vorgehalten werden als in städtischen Gebieten mit hohem Zuzug und junger Bevölkerungsstruktur, wo sich Investitionen voraussichtlich schneller amortisieren.
Gerade vor dem Hintergrund der aufkommenden gesetzlichen Vorgaben zur Erstellung von kommunalen Wärmeplänen liefert diese Form des Digitalen Zwillings wertvolle Erkenntnisse, um ein auf die langfristige Entwicklung der jeweiligen Kommune zugeschnittenes Konzept zur Dimensionierung des Netzwerks und der Gestaltung der künftigen Wärmeerzeugung zu entwickeln. Das betrifft beispielsweise die Frage nach einer zentralen oder dezentralen Wärmeerzeugung, also die Entscheidung zwischen Fernwärme vs. Nahwärme.
Regulatorische Anforderungen als Chance begreifen
Szenarien wie diese haben bislang eher Leuchtturmcharakter. Gerade im Vergleich zum Stromnetz, wo es bereits seit einigen Jahren eine gesetzliche Verpflichtung zur Digitalisierung der Zählerinfrastruktur gibt, stehen intelligente Fernwärme- oder Fernkältenetze noch am Anfang. Mit dem Energieeffizienzgesetz und der Fernwärme- oder Fernkälte-Verbrauchserfassungs- und Abrechnungsverordnung (FFVAV)[4] wird nun die Grundlage geschaffen, um all diese Daten überhaupt erfassen zu können und dann auch Digitale Zwillinge sinnvoll implementieren zu können. Dazu müssen auch die entsprechenden Backends oder auch Frontends in Richtung Kunden softwareseitig aufgebaut werden. Das ist mit einem gewissen Aufwand verbunden.
Umso wichtiger ist es für Fernwärmenetzbetreiber, die Digitalisierung der Zählerinfrastruktur nicht nur als regulatorische Pflichtaufgabe, sondern als Chance für mehr Netztransparenz zu begreifen und sinnvolle Digital Twin Use Cases mitzudenken, etwa im Bereich Predictive Maintenance, Kapazitätsplanung oder neuartige Kundenservices. Gleichzeitig sollten die Betreiber frühzeitig den Kontakt zu den Kommunen suchen, auf die in den kommenden Jahren ebenfalls neue gesetzliche Anforderungen zukommen dürften, wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt.
Quellen
[1] BMWi (2019): https://www.bmwi-energiewende.de/EWD/Redaktion/Newsletter/2019/10/Meldung/direkt-erfasst_infografik.html
[2] AGFW (2021): https://www.agfw.de/
[3] Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg (2023): https://um.baden-wuerttemberg.de/de/energie/energieeffizienz/in-kommunen/kommunale-waermeplanung
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/ffvav/BJNR459110021.html
Über die "Smart Energy City"-Reihe
Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und zukunftsorientierten Stadtentwicklung stehen Kommunen in den kommenden Jahren vor enormen energetischen Herausforderungen. Sei es der nachhaltige Ausbau von Fernwärme- und Fernkältenetzen zur Erreichung der Klimaziele im Gebäudesektor oder die Netzplanung zur Bewältigung der steigenden Netzlasten durch die Anforderungen der E-Mobilität – viele der zukünftigen Herausforderungen können von den lokalen Verteilnetzbetreibern mit den bestehenden Instrumenten nicht gelöst werden.
Wie Digitale Zwillinge hier neue Lösungsansätze liefern und damit zu einem wichtigen Baustein für die intelligente und klimaneutrale Stadt von morgen werden können, erfahren Sie in unserem zweiteiligen Beitrag „Smart Energy City“.
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Alexander Littwin
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Teil 1Digitale Zwillinge können ein wichtiger Baustein für die intelligente und klimaneutrale Stadt von morgen werden. Teil 1 unseres zweiteiligen Beitrags "Smart Energy City": Digitaler Zwilling für die EV-Netzplanung.
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